Trotz des weitreichenden Einflusses, den Rudolf Steiners Texte, Überlegungen und Ideen auf seine Zeitgenossen und Zeitgenoss:innen, sowie kulturkreative Personen aus verschiedenen Bereichen bis in die Gegenwart hinein ausgeübt haben, ist die akademische Auseinandersetzung mit seinen Schriften und Ideen nach wie vor begrenzt. Sein philosophisches Werk ist außerhalb anthroposophischer Gruppierungen trotz einiger jüngerer Entwicklungen wenig bekannt. Die vorhandenen Auseinandersetzungen scheinen zudem selten Ausdruck eines offenen Diskurses zu sein, sondern wirken entweder dogmatisch affirmativ oder dogmatisch ablehnend. Was für das vorliegende Projekt maßgebend ist, sind konstruktive Untersuchungen und Diskussion von Ideen Steiners, die einen Zusammenhang zu Gegenwartsfragen aufweisen und zum Interessensgebiet der beteiligten Personen gehören.
Wir wollen bei dem vorliegenden Projekt mit Ideen und Diskursen Steiners in einen offenen Dialog treten und untersuchen, wo und ob sich Ansätze für die oben beschriebenen Themen ergeben. Als interdisziplinäres Forschungsteam hegen wir nicht den Anspruch, eine letztgültige Interpretation und Lesart zu liefern. Vielmehr geht es uns um eine facettenreiche, individuelle und kreative Perspektive, um die eigene akademische Auseinandersetzung mit uns relevant erscheinenden Forschungsfragen zu befördern. Wir werden die Ergebnisse in lockerer Reihenfolge publizieren und darstellen.
Erste Ergebnisse dieser Forschung werden voraussichtlich 2022 unter dem Titel „Re-Reading Steiner“ in englischer Sprache publiziert werden.
Das Projekt gliedert sich derzeit in die folgenden Teilprojekte:
Andrews primäres Forschungsprojekt konzentriert sich auf die politische und soziale Theorie Rudolf Steiners. Das Projekt stellt eine kritische Auseinandersetzung mit Steiners Ideen der sozialen Dreigliederung dar: der Organisation autonomer, aber verwandter Gesellschaftssphären auf der Grundlage von Politik, Wirtschaft und Kultur. Neben einer Analyse dieser Ideen im Kontext etablierterer politischer und sozialer Theorien interessiert sich Andrew auch für die verschiedenen zeitgenössischen Ausdrucksformen von Steiners Werk als Antwort auf dominante Formen gesellschaftlicher Organisation durch den neoliberalen Kapitalismus.
Ein roter Faden, der sich durch Andrews verschiedene Forschungsinteressen zieht, ist die alltägliche Theorie und Praxis des Widerstands gegen dominante unterdrückerische Sozialformen, und so unterhält er ein aktives Forschungsinteresse an Anarchismus, Feminismus, kritischer Pädagogik und nicht-hierarchischen Organisations- und Beziehungsformen.
Rosa Mayreder – A fin-de-siècle artist re-visited
Obwohl Rosa Mayreder eine der bedeutendsten deutschsprachigen Feministinnen der Jahrhundertwende war und in Österreich die 500-Schilling Banknote geschmückt hat, ist der Name in Deutschland kaum geläufig. In diesem Forschungsprojekt beschäftige ich mich einerseits mit Mayreders philosophischen Aufsätzen, in denen sie Geschlecht als soziale Kategorie einführt und sich mit den führenden Philosophen ihrer Zeit kritisch und gründlich auseinandersetzt. Besonders ihre differenzierte Betrachtung von Geschlecht, Natur und Kultur lässt die Interpretation zu, dass Mayreder eine Vorreiterin der Gender Studies im deutschsprachigen Raum ist. Ein literatur- und kulturwissenschaftliches Interesse führt mich hin zu Mayreders Theaterstück Anda Renata, das als feministische Antwort auf Goethes Faust bezeichnet wird. Durch meine Auseinandersetzung mit dem Faustmythos und dem literarischen sowie kulturellen Phänomen der Doppelgängermotive in meiner Masterarbeit, sowie meine ehrenamtliche Tätigkeit in zwei Theatervereinen, sehe ich hier das Potential, sowohl eine geisteswissenschaftliche Forschungsarbeit zu verfassen, als auch das Stück kreativ neu adaptiert auf die Bühne zu bringen.
Das Projekt fügt sich ein in ein generelles Forschungsinteresse an der Bedeutung von Emotionen und Emotionalität in der Moralphilosophie, an holistischen Ansätzen der Philosophischen Anthropologie (insbesondere dem Konzept der Leiblichkeit) sowie an Schnittfeldern zwischen Ethik und Kunst (insbesondere Ethik – Theater – Persönlichkeitsentwicklung).
Zur Philosophie des Geistes, unserer Kognition und Intelligenz ist sowohl von Philosophen als auch Neurowissenschaftlern viel gesagt und geschrieben worden. Eine der Stimmen, die in dieser sehr kritischen Debatte eher vernachlässigt wurde, ist die von Rudolf Steiner. Das vorliegende Forschungsprojekt versucht, dieses Versäumnis zu korrigieren und zielt darauf ab, Steiners Hypothesen über den kognitiven Prozess zu untersuchen und sie mit den Vorstellungen des zeitgenössischen Philosophen Markus Gabriel zu vergleichen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der von Steiner postulierten Dualität von Wahrnehmung und Denken und dem zeitgenössischen Gegenstück, in welchem das Denken selbst als ein Akt der Wahrnehmung betrachtet wird. Diese Ideen werden im Lichte aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse diskutiert, mit besonderem Augenmerk auf der Unterscheidung bzw. möglichen Synergien zwischen dem Default- und dem exekutiven Netzwerk sowie auf den neuronalen Grundlagen von Kognition und metakognitiven Zuständen. Schließlich werden mögliche Anwendungen dieser Modelle des menschlichen Denkens und der Kognition auf den Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) und die potenziellen Missverständnisse einer solchen Analogie vorgestellt.
©ibugi 2020